Titel von Elisabeth Escher. Another blog: https://bookofflorence.wordpress.com/
Sonntag, 12. Juni 2016
Ich bin auf ein Projekt gestoßen, dem sogenannten #weekendwriting. Jedes Wochenende wird eine neue Fotografie gepostet, zu der man eine Kurzgeschichte schreiben kann. Ich finde die Idee ziemlich toll und habe mir heute zum ersten Mal die Zeit dafür genommen. Wen es auch interessiert, schaut doch bei diesem Blog vorbei: http://www.ineshaeufler.com/blog/

Hier ist meine Kurzgeschichte (zunächst nur die Rohfassung):

Ich schließe die Augen. Hinter mir steht die Frisörin und hält meinen langen Zopf in ihren Händen.
„Bereit?“, fragt sie.
„Ja“, antworte ich.
Einige Sekunden vergehen, dann höre ich die Schere, wie sie jedes einzelne Haar durchtrennt.
Mein Kopf fühlt sich leichter an.
Ich lasse die Augen geschlossen, während die Frisörin nun einen ordentlichen Haarschnitt zaubert. Ich stelle mir vor, wie ich jetzt aussehe. Zu meinem neuen Aussehen denke ich mir einen neuen Charakter aus. Zu meinem neuen Charakter einen neuen Namen.
Als ich die Augen aufschlage, sehe ich mein blasses Gesicht im großen Spiegel. Ich betrachte meine Ohren, die sonst immer von den langen Haaren verdeckt gewesen waren. Auch mein Nacken und meine Schultern sind frei.
Meine blauen Augen wirken größer, jetzt wo es keine buschigen Haarsträhnen mehr gibt, die von ihnen ablenken. Die Frisörin lächelt mir zu und auch ich lächele.
Ich heiße jetzt Florence.
Florence ist eine zielstrebige offene Frau, die sich nicht versteckt. Sie lacht viel, sie bewegt sich grazil und verzaubert die Menschen, mit Witz und Anmut.
Langsam erhebe ich mich aus dem ledernen Stuhl. Mein brauner Zopf liegt auf dem gekachelten Fußboden. Kurz denke ich daran ihn aufzuheben und mitzunehmen, aber ich lasse ihn liegen und gehe zur Kasse.
Als ich den Frisörladen verlasse, atme ich die klare Frühlingsluft ein. Es wird ein schöner Tag in dieser fremden Stadt. Vor einem Mistkübel bleibe ich stehen und hole meinen Reisepass aus der Tasche. Bevor ich ihn in den Eimer werfe, betrachte ich noch einmal das Dokument. „Simone Remie“ heißt es darin. Als der Pass und der Name verschwunden sind, fühle ich mich wieder um einiges leichter und spaziere weiter. Ein Mann sieht mich an und er lächelt. Simone hätte schnell weggesehen, aber Florence lächelt zurück.